Immer mehr junge Menschen folgen extremen Abnehm-Trends auf TikTok. Die Plattform sperrte im Juni 2025 den Hashtag „SkinnyTok“. Doch viele Nutzerinnen und Nutzer teilen weiterhin gefährliche Inhalte unter neuen Bezeichnungen. Besonders betroffen sind Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren. Laut einem Bericht der Kaufmännischen Krankenkasse stieg die Zahl der Essstörungen bei dieser Gruppe von 2019 bis 2023 um fast 50 Prozent.
Inhaltsverzeichnis:
- TikTok, Zöllner und gefährliche Vorbilder
- GNTM, Heidi Klum und widersprüchliche Botschaften
- Vergangenheit, Tumblr und der Kreislauf der Inhalte
- Naomi Wolf, feministische Kritik und aktuelle Zahlen
- Wege zur Gegensteuerung
TikTok, Zöllner und gefährliche Vorbilder
TikTok sperrte den Hashtag „SkinnyTok“, ersetzt ihn aber nur durch Verlinkungen zu Hilfsangeboten. Damit ist das Problem jedoch nicht behoben. Videos mit extrem kalorienarmen „What I eat in a day“-Inhalten oder Tipps wie Wasserfasten, Saftkuren oder Verzicht auf Abendessen bleiben sichtbar – nur unter anderen Schlagwörtern.
Oliver Zöllner, Professor am Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart, warnt vor der Vorbildfunktion dieser Inhalte. Laut ihm sehen viele Jugendliche dünne Körper als Lösung für gesellschaftlich erzeugte Probleme. Sie hungern sich gezielt auf gefährliches Untergewicht. Die Konsequenzen reichen von psychischen Problemen bis zu dauerhaften gesundheitlichen Schäden.
Der Schlankheitswahn wird heute oft als Selbstfürsorge getarnt. Die sogenannte Clean-Girl-Ästhetik präsentiert Sport, Hautpflege und gesunde Ernährung – vermittelt jedoch gleichzeitig ein Ideal von Kontrolle, Disziplin und Makellosigkeit. Wer sich daran orientiert, erfährt entweder Inspiration oder erhöhten Druck, ebenfalls so zu leben.
GNTM, Heidi Klum und widersprüchliche Botschaften
Im Finale der 2025er-Staffel von „Germany’s Next Topmodel“ standen ausschließlich schlanke Frauen und Männer. Obwohl Heidi Klum öffentlich Vielfalt betont, erscheint sie selbst auf stark bearbeiteten Werbeplakaten. Diese widersprüchlichen Signale verstärken laut Kritikern das Gefühl, dass Body Positivity in vielen Fällen nur Fassade ist.
Auch die Modebranche zeigt ähnliche Tendenzen. Zwar gibt es Kampagnen, die Diversität betonen, doch auf den Laufstegen sieht es anders aus. Der Size Inclusivity Report von Vogue Business analysierte 8703 Looks aus 198 Shows. Nur 2 Prozent der Models hatten Mid-Size-Größe, 0,3 Prozent waren Plus-Size. Zum Vergleich: In der vorherigen Saison waren es noch 4,3 bzw. 0,8 Prozent. Marken wie Marine Serre oder Duran Lantink setzen zwar auf Inszenierungen von Kurven, jedoch meist mit künstlichen Mitteln – echte Körperformen bleiben die Ausnahme.
Vergangenheit, Tumblr und der Kreislauf der Inhalte
Der aktuelle Trend erinnert stark an die 2000er-Jahre und Plattformen wie Tumblr oder sogenannte Pro-Ana-Websites. Bereits damals wurden Essstörungen romantisiert. Inhalte verschwanden nie komplett, sondern tauchten unter neuen Namen und Plattformen immer wieder auf. Heute kehren diese Ideale zurück – mit noch größerer Reichweite und algorithmischer Verstärkung durch TikTok.
Selbst Begriffe wie #thinspo – eine Mischung aus „dünn“ und „Inspiration“ – finden sich wieder. Der Inhalt bleibt derselbe: gefährliche Tipps, problematische Ästhetik, verzerrte Selbstbilder.
Naomi Wolf, feministische Kritik und aktuelle Zahlen
Laut Barmer Krankenkasse leiden in Deutschland 61 von 1000 Frauen und 18 von 1000 Männern im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung. Das betrifft Millionen Menschen – und zeigt, dass der Druck zur Anpassung nicht nur ein individuelles Problem ist.
Naomi Wolf, Autorin des Buches „Der Mythos Schönheit“, beschreibt Diäten als politische Werkzeuge. Sie sieht in der gesellschaftlichen Fixierung auf Dünnsein nicht Schönheit, sondern Kontrolle. In konservativen Zeiten gewinnen solche Ideale wieder an Einfluss – auch in Popkultur und Politik.
Wege zur Gegensteuerung
Es gibt Maßnahmen, die helfen können:
- Bewusstes Kuratieren der Inhalte im eigenen Feed.
- Verwenden der „Nicht interessiert“-Funktion bei schädlichen Beiträgen.
- Folgen von Accounts, die Diversität, Gesundheit und Selbstakzeptanz fördern.
- Elterliche und schulische Medienbildung, um Ideale kritisch zu hinterfragen.
Dr. Charlotte Ord empfiehlt, Plattformen aktiv zu gestalten. Ziel sei nicht Verbot, sondern Stärkung der Nutzerkompetenz. Die Verantwortung liegt bei Plattformen, Bildungseinrichtungen und Gesellschaft zugleich. Denn nur gemeinsam kann man dem medialen Druck entgegenwirken – und Jugendlichen helfen, ein gesundes Verhältnis zum eigenen Körper zu entwickeln.
Quelle: Berliner Zeitung